Rettungsdienst überlastet: Was ist zu tun?

Die Einsatzzahlen steigen, und immer öfter wird der Rettungsdienst gerufen, obwohl kein medizinischer Notfall vorliegt. Dies hat mitunter schwerwiegende Folgen: Der Dienst fehlt in echten Notfällen, das Personal ist überlastet, Hilfesuchende sind frustriert. Welche Lösungen es dazu gibt, beschreibt Prof. Dr. Bernhard Eßer vom Fachbereich Gesundheit unserer Hochschule.

Herr Professor Eßer, Sie waren bis zu Ihrer Berufung an unsere Hochschule ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes in Hamm. Wie sieht denn ein ganz normaler Ablauf aus?
Menschen, die einen akuten medizinischen Notfall – beispielsweise akute Luftnot oder einen schweren Unfall – erleiden, können die bundesweite Rufnummer 112 anrufen. Nach einem kurzen Gespräch zwischen Leitstelle und Betroffenen oder deren Angehörigen startet ein Rettungswagen. Er ist mit lebensrettender Technik ausgestattet. Eine Notärztin oder ein Notarzt kommen bei Bedarf dazu, und gemeinsam mit den Notfallsanitäter*innen übernehmen sie die Erstversorgung noch vor Ort oder im Auto auf dem Weg in eine Klinik.

Wir wissen, dass Rettungsdienste auch alarmiert werden, wenn keine medizinische Notlage besteht.
Das stimmt. Es gibt beispielsweise Patient*innen, die über Kopf- und Rückenschmerzen, normalen Durchfall und Insektenstiche ohne allergische Reaktionen klagen oder sich eine minimale Verletzung zugezogen haben. Neben den fehlenden medizinischen Indikationen als Grund fordern zunehmend Menschen die Hilfe ein, weil sie sich in einer sozialen Notlage befinden: etwa Patient*innen, die bekanntermaßen und unverändert verwirrt sind, oder überforderte pflegende Angehörige. Aus deren Sicht handelt es sich um Notfälle, und sie brauchen sofort Hilfe – aber wenn der Rettungsdienst dies leistet, ist das System überlastet. Wir verzeichnen einen jährlichen Anstieg der Einsätze um etwa zehn Prozent, Tendenz steigend.

Was schlagen Sie vor?
Es sind sicher mehrere Tools, die wir zusammenführen müssen. Wir benötigen dringend einen Weichensteller für nichtlebensbedrohliche Situationen: Eine Nummer, unter der pflegerische Probleme, einfache medizinische Akutlagen sowie psychiatrische und soziale Anliegen identifiziert und klassifiziert werden – möglicherweise könnte dies die 116 117, die Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes, sein oder aber auch ein medizinisches Informationszentrum. Diese Leitzentrale könnte entscheiden, ob und welche medizinische Hilfe nötig ist, oder an andere Stellen weiterleiten, sich um Akutpflege kümmern und an andere Hilfsangebote vermitteln. Ich halte es für zwingend notwendig, darüber hinaus auch soziale Notfalldienste einzurichten. Die 112 muss ein Synonym für medizinische Notsituationen bleiben!

Was könnte noch zu einem gelingenden Gesamtkonzept beitragen?
Ein weiteres Tool könnten Videosprechstunden sein, die sich auch schon bewährt haben, oder wie im Aachener Pilotprojekt der „Telenotarzt“ und in Münster der „Oberarzt im Rettungsdienst“. Ein weiterer Ansatz sind Telekonsile – Plattformen, auf denen sich Ärzt*innen konkret über spezielle Diagnosen austauschen können. Etliche Städte entlasten auch schon die Rettungsdienste, indem Ordnungsämter und Gemeindenotfallsanitäter*innen bestimmte Parts übernehmen. Ein gutes Beispiel war eine Kindersprechstunde per Video über die Feiertage – von den rund 1.000 Videochats konnten 700 direkt geklärt werden, die kleinen Patient*innen mussten nicht in einer Notfallpraxis behandelt werden. Es gibt also Konzepte, zwischen denen die Grenzen auch fließend sein können, den jetzt schon überlasteten Rettungsdienst zu entlasten – und letztlich damit auch Hilfesuchenden und Kranken besser zu helfen. Und natürlich gibt es weiterhin die Fälle, in denen der persönliche Kontakt zu Ärzt*innen nicht zu ersetzen ist.

Woran scheitert eine bundesweite Umsetzung?
Der politische Wille muss da sein, gute Beispiele für uns könnten die skandinavischen Länder sein. Ein Argument im Gegenwind sind die Kosten, zumal sie aus unterschiedlichen Kassen beglichen werden müssen – aber am Ende wird es preiswerter. Aus Berlin wurde von einer Patientin berichtet, die in elf Monaten 194-mal den Rettungsdienst in Anspruch genommen hat, bis eine Lösung gefunden wurde. Ein anderer sozialer Notfall mit 74 Anrufen führte zu 14 Einsätzen in einem Monat. Hierfür müssen niedrigschwellige Angebote außerhalb des Rettungsdienstes erreichbar sein.

Fließt diese Thematik in die Lehre ein?
Ja, wir vermitteln in unserem Studiengang Berufspädagogik im Gesundheitswesen für die Fachrichtung Rettungswesen nicht nur reines Faktenwissen, sondern auch Problem- und Lösungsstrategien auf Patientenebene. Wir machen Studierende dafür fit, als Lehrende hochqualifizierte Notfallsanitäter*innen auszubilden. Um die Vermittlung von Kompetenzen in Katastrophenschutz und Nothilfe geht es aber auch in Modulen anderer Studiengänge am Fachbereich Gesundheit – immer mit Bezug zur Praxis. In unserem Skills Lab trainieren unsere Studierenden ebenfalls Fähigkeiten, die sie zukünftig brauchen. Unsere Expertise bringen wir in der Region ein, um nur zwei Beispiele zu nennen: In der Rettungsdienst-Kooperation im Münsterland unterstützt ein Telenotarztsystem zukünftig über die Leitstelle am York-Ring in Münster mehr als 150 Rettungswagen. Wir werden die Lehre auf diese Telemedizin hin ausrichten. Mit Hilfe eines wissenschaftlichen Teams unseres Fachbereichs Gesundheit hat ein Klinikum die videogestützte Visite entwickelt, um zwei örtlich getrennte Abteilungen zu verbinden.

Zum Thema: In unserem aktuellen Hochschulentwicklungsplan haben wir das Thema Gesundheit für weitere fünf Jahre als eine von sechs gesellschaftlichen Herausforderungen definiert, die unsere Hochschule bei ihrer Weiterentwicklung in besonderer Weise berücksichtigen wird. Ziel ist es, Gesundheit als deutlichen Schwerpunkt in den Strategieperspektiven Bildung und Forschung weiter zu stärken und die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu fördern. Vom 9. bis 20. Januar stellen wir vielfältige Aktivitäten und Projekte in diesem Themenfeld vor.

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