Wenn Alain durch die Produktionshalle läuft, wird schnell klar: Er kennt seine Mitarbeitenden gut. Zwischen den meterhohen Regalen grüßt er sie beim Vornamen, weiß zu vielen Gesichtern gleich eine ganze Geschichte zu erzählen. „Ich bin quasi im Betrieb großgeworden“, erzählt der 31-jährige zu Beginn des Gesprächs. Das Unternehmen mit Sitz in Altenberge entwickelt und produziert kundenindividuelle Fahrräder und E-Bikes. Gegründet wurde die Firma 1966 von Alains Vater, Albert Thiemann. Als Alain 14 Jahre alt ist, verstirbt sein Vater. „Das war lebensverändernd“, sagt er. Ab diesem Moment sei ihm klar geworden, dass er seine Zukunft im Familienunternehmen sehe.



Nach seinem Bachelorabschluss in International Business kommt er 2014 an unsere Hochschule, wo er den Master Accounting and Finance am Fachbereich Wirtschaft, der Münster School of Business, anschließt. „Im Bachelor hatte ich zwei Schwerpunkte, Marketing und Finance. Für beide hatte ich eine hohe Leidenschaft, aber eine Sache konnte ich nicht: Buchhaltung. Das hat mich extrem geärgert. Ich wollte jeden Bereich eines Unternehmens verstehen. Für mich war klar: Daran musst du arbeiten.“ Am Anfang habe er deshalb großen Respekt vor dem Master gehabt. Heute weiß er: „Das war die richtige Entscheidung.“
Im Alter von 28 Jahren übernimmt er schließlich 2020 gemeinsam mit seinem Halbbruder Volker Thiemann, der bereits seit 1992 Geschäftsführer ist, die Leitung des Familienunternehmens. „Familie bedeutet in diesem Kontext übrigens nicht nur ‚die Thiemanns‘, sondern bezieht sich vor allem auf die Angehörigen der Mitarbeitenden, die teilweise schon seit mehreren Generationen bei uns tätig sind“, betont Alain. Schon zu Schulzeiten stand Alain mit einem Fuß in der Firma und jobbte in verschiedenen Abteilungen.

Was die Arbeit bei Velo de Ville so besonders mache? „Kurze Kommunikationswege, viele Freiheiten. Entscheidungen, die aus Überzeugung getroffen werden – weil wir daran glauben.“ Das gelte für die Produkte, aber auch für die Unternehmenskultur. Elf Prozent der Mitarbeitenden haben eine Beeinträchtigung. „Das machen wir aus persönlicher Überzeugung. Wir haben kürzlich viel in den Lärmschutz innerhalb der Produktion investiert, um beispielsweise hörgeschädigten Kolleg*innen das Arbeiten zu erleichtern“, so Alain.

In den letzten Jahren sei das Unternehmen deutlich gewachsen. Das Rezept für den Erfolg? Ein starkes und motiviertes Team. „Bei Bewerbungen achten wir weniger auf den bisherigen Werdegang, sondern vor allem darauf, ob die Leidenschaft für Fahrräder bei uns ankommt.“ Wertvolle Einblicke in die Branche gibt Velo de Ville regelmäßig Werkstudierenden unserer Hochschule. „Studierende sind bei uns in spannende Projekte involviert und bekommen schnell sehr verantwortungsvolle Aufgaben. Gerade im Bereich Produktentwicklung läuft das richtig gut.“ Ein Beispiel dafür ist das Lieblingsmodell von Alain, das Cargobike „FR8“, das der Student Minh Pham vom Fachbereich Design im Rahmen seiner Bachelorarbeit mit Velo de Ville konzipierte – und das heute auf den Straßen Deutschlands zu finden ist.
Von Janine Martschinske